Poesie und Theologie in Gertruds »Exercitia«
Gertrud bringt mittelalterliche Poesie im Sinne der Minnedichtung und der Brautmystik (zurückgreifend auf das Hohe Lied) zu einem Höhepunkt, mit einer Unmittelbarkeit der persönlichen Liebessprache, wie sie in Deutschland wohl erst wieder in der Zeit des Sturm und Drang erreicht wurde. Vgl.
- III 5-76, bes. 32-42; 66-76 Braut und Bräutigam
- V 393-396 Liebe: Leben in und aus dem Du
- IV 354-369 (mit Kommentar IV 355-359) „mors mystica“: Minnetod in Parallele zu Tristan-Motiven
- V 213-218 Abendlied: Ruhen an der Brust des Geliebten
Gertrud verwendet Motive, die auch heute durchaus „modern“ anmuten. Vgl.
- VI 587-593 der Mensch als (dahingewirbeltes) Blatt im Wettersturm dieser Weltenzeit; das Leben als Traum, als Gaukelspiel (Motive wie bei Hiob und später bei Shakespeare)
- VI 579-581 die gottferne Welt als froststarrende Winterwelt
- VI 182f. der Mensch ? Atom im Universum der Schöpfung
- VI 650-653 die göttliche Sonne, die im Abglanz der Morgenröte wahrzunehmen ist: (vgl. Goethes Faust, der von der Sonne geblendet, erkennt: „im farbigen Abglanz haben wir das Leben“, vgl. auch Platons Höhlengleichnis)
Gertruds Bilder sind, bei aller literarischen Tradition, von größter Unmittelbarkeit der Wahrnehmung, sie sind gesehen und gehört. Vgl.
- VI 673-677 Frühling
- VII 437-441 Winter
- VI 590-592 Wasser/Musik (vgl. das lateinische Vokalspiel)
- VI 45-49; 544-548 Musik als Metapher der Unio; VI 257-261 als Metapher der Dreifaltigkeit
- VII 565-567 das nagende Hündchen
- IV 315-328 der Glutwind der Liebe und der Wirbelsturm des Geisthauchs ergreifen das Staubkorn Mensch und schleudern es in das Göttliche hinein
- VII 80-95; 152-157 der Glaube als „Kredit“ (mit Metaphern des Kreditgewerbes und des Gerichtswesens)
Gertrud reflektiert geistige und seelische Vorgänge mit psychologischer Genauigkeit: Vgl.
- V 328-371 Methodik des Forschens und Didaktik der Vermittlung (vgl. Kommentar V 328-371 und 343f.)
- VII 292-300; 453-455 Gesprächstherapie: Heilung im Gespräch (mit Kommentar VII 292-337; 294; 453-455)
Gertrud entwickelt eine Theologie von höchstem Niveau. Vgl.
- III 353-356 (mit Kommentar III 353-356; 353) kosmische Theologie im Sinne der Emanationslehre (z. T. mit eigengeprägten lateinischen Begriffen)
- VII 1-7; 67-132; 266-279 (mit Kommentar VII 1-7; 3-5; 67-132; 277f.) Theologie der Rechtfertigung: in konsequenter Umsetzung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn/vom barmherzigen Vater
- VII 338-371 Theologie des Todes, der das Leben gebiert (in höchst poetischer Form, in deutscher Dichtung nur noch vergleichbar mit Novalis)
- VI 12-87 (mit Kommentar) Theologie und Anthropologie: der Weg des Menschen aus Staub und Asche zum selbständigen Ich
- III 99-102 das liebestrunkene göttliche Herz
- V 515-535 die Ewigkeit als Aufhebung der Zeit in einem zeitlosen „Heute“